Kommentar – Politisches Personal

Dieser Tage wird vielerorts die Frage gestellt, was der britische Premierminister David Cameron falsch gemacht hat, damit es soweit kommen konnte: die Briten haben nun mehrheitlich für den sogenannten Brexit gestimmt. Das Land soll die EU nach 43 Jahren der Mitgliedschaft verlassen. Die Antwort, die in Presse, Radio und Fernsehen gegeben wird, ist die, die Alexander Graf Lambsdorff schon am Morgen nach der britischen Abstimmung gab: Wenn einer wie Cameron zehn Jahre lang öffentlich gegen die EU wettert, kann es nicht gelingen, innerhalb von sechs Wochen, in denen er das Gegenteil beteuert, ein ganzes Volk von der Gesinnungsänderung zu überzeugen. Allein, die Antwort mag richtig sein, die Frage selbst greift zu kurz. Sie ist in etwa so zielführend wie die, warum das Kind in den Brunnen gefallen ist, obwohl man genau weiß, dass die richtige Frage lautet: Wie konnte es dazu kommen, dass genau dieses Kind überhaupt in die Nähe des Brunnens kommen durfte? Mit genau derselben Frage haben wir uns hier in Deutschland vor gut vier Jahren schon einmal konfrontiert gesehen. Da brach der Scheißesturm über den damals im Amt des Bundespräsidenten befindlichen Christian Wulff los. Wie deutsche Gerichte später feststellten, ging es auch hierbei nicht oder nicht so sehr darum, was Herr Wulff falsch gemacht habe. Vielmehr bahnte sich unter dem Deckmantel dieser Frage ein Unbehagen in Medien und Bevölkerung seinen Weg, das viel tiefer reichte und das heute auch hilft, die Fragen um Cameron zu beantworten: Warum, um Himmels Willen, konnte jemand mit diesem Format überhaupt in ein solches Amt gelangen? Man muss gar nichts Ehrenrühriges über Herrn Wulff und Herrn Cameron sagen, denn es wird ohnehin zu viel Schlechtes gesagt und geschrieben und es ist ohnehin nicht einfach, in der Öffentlichkeit zu stehen. Doch muss man eines festhalten: Es ist nun innerhalb von nur wenigen Jahren ein zweiter politischer Super-GAU in Europa passiert: Zuerst die Beschädigung des höchsten deutschen Staatsamts, jetzt die Beschädigung der EU mit weitestgehend unabsehbaren politischen, wirtschaftlichen und symbolischen Folgen. Beide stehen in direktem Zusammenhang mit jeweils einer einzelnen Person, die sich von seiner jeweiligen Entstehung nicht wegdenken lässt. Darum muss Folgendes einmal geschrieben und ausgesprochen werden: Sowohl das Amt eines deutschen Bundespräsidenten, das mit großer Würde gesegnet ist, als auch das Amt des britischen Premierministers, das mehr noch als mit Würde vor allem mit großer konkreter Macht und Einfluss einhergeht, dürfen nicht von Menschen bekleidet werden, die weder in ihrer politischen Handschrift noch in ihrem öffentlichen Habitus die Voraussetzungen dafür mitbringen. Mit Ersterem ist gemeint, dass Politiker sich hohe, würdevolle und einflussreiche Ämter durch eine nachvollziehbare Geschichte gemeinwohlorientierten Handelns und Redens verdienen müssen. Mit Letzterem, ihrem Habitus, ist gemeint, dass ihre Art, zu reden, zu streiten und zu handeln, die benötigte Reife für die Bekleidung eines so hohen Amtes ausstrahlen muss. Menschen wie von Weizsäcker (dessen Haltung und Auftreten immer tadellosen Anstand vermittelte), Gauck (dessen Geschichte als DDR-Bürgerrechtler und evangelischem Pastor ihm persönliche Glaubwürdigkeit und charakterliche Tiefe verleiht) und Tony Blair (der mit einer relevanten politischen Agenda und freundlichem Charisma die Labour-Partei aus einer fast 20-jährigen Versenkung führte und dem Land neuen innenpolitischen Schwung gab) haben sich – wenn auch letzterer vor dem Hintergrund seines Handelns im Irak-Krieg sehr kritisch gesehen wird, durch nachvollziehbare Glaubwürdigkeit und charaktervolles, aufrechtes öffentliches Auftreten, den Respekt der Meisten verdient. Der Fehler im Brexit liegt nicht in Camerons schlechtem und inkonsistenten Reden und Handeln. Er liegt vor allem darin, dass politische Eliten in der konservativen Partei Großbritanniens jemanden zum Kandidaten für das höchste politische Amt erkoren haben, von dem sie sich aus falschen Gründen haben beeindrucken lassen. Über diese könnte man spekulieren. In der konservativen Partei könnten die Zugehörigkeit zur englischen Oberschicht, eine lange zurückverfolgbare Familiengeschichte und Vermögen zu solchen Gründen zählen. Die politischen Eliten Großbritanniens haben mit dieser schwachen Personalie krachend versagt und wenig politische Klugheit bewiesen. Ebenso die Kanzlerin, als sie aus Motiven, über die gerätselt wird, die aber allesamt irgendwo im partei- und personaltaktischen Bereich gesucht werden, den für das Amt und seine Würde in keiner Weise reifen und sich ausgezeichnet habenden Christian Wulff erkor. Weder durch besondere Klugheit, für die er öffentlich gepriesen worden wäre, noch durch besondere integrative politische Akzente, die er als Landtagsabgeordneter oder Ministerpräsident gesetzt hätte. Europa und seine Menschen brauchen Charakterköpfe, die bewiesen haben, dass die Mehrheit der Menschen ihnen wichtiger ist als sie sich selbst.

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