„Mylords, ladies, fellow party workers – I am a golfer“, beginnt Rowan Atkinsons vielleicht politischstes Stück. Es ist eine Auseinandersetzung mit der Verlogenheit konservativen Sprachgebrauchs. Ich würde meinen Artikel gerne ähnlich beginnen, nämlich damit, dass ich Radfahrer bin. Und dass ich mich für Politik interessiere und sogar politisch aktiv bin. Zu beiden Dimensionen meiner Persönlichkeit ist mir in den letzten Tagen etwas eingefallen, das ich für mitteilenswert halte. Zwei Dinge, die ich die längste Zeit für wahr oder glaubwürdig gehalten habe, die so, wie sie mir einmal vermittelt wurden, aber nicht sind. Das eine ist, dass das eigentliche Problem von Dieselabgasen ihr Stickoxidanteil sei. Und das andere, dass wir in einer gut funktionierenden Demokratie leben. Zu beiden Narrativen möchte ich ein paar eigene Gedanken beisteuern:
Unstimmigkeit Nummer 1: Wie abstrakt über Dieselabgase gesprochen wird
Abgasproblem nicht hinter abstrakten Fachbegriffen verstecken
Als chemisch nur minimal vorgebildeter Mensch weiß ich nicht, wie verschiedene Stickoxide riechen und habe darum selbst keine bewusste Erfahrung mit ihrer Wirkung auf meinen Körper. Ich gehe nicht auf die Straße und sage: „Ah, hier riecht es nach Stickstoffdioxid“ (NO2, s. Wikipedia-Artikel). Die EU-Abgasnorm orientiert sich aber stark am Stickstoffoxid-Ausstoß. Ein nach der Euro 6-Norm eingestellter Diesel stößt deutlich weniger von dem schädlichen Gas aus als ein noch nach Euro 5-Norm eingestellter Motor. Als Fahrradfahrer, Fußgänger und Ottonormalverbraucher bin ich nicht vorgebildet, das giftige Gas am Geruch eindeutig zu identifizieren. Ich kann auch nicht beurteilen, was es mit mir macht und wieviel dessen, was ich durch die Einwirkung vom Abgas spüren kann, genau an diesem Gas-Bestandteil liegt. So mag es richtig sein, dass es eine Rolle spielt, wie viel davon ausgestoßen und in meine Atemluft geblasen wird. Das eigentlich von mir identifizierbare Problem, das ich als Radfahrer und Fußgänger mit dem Abgas von Dieselmotoren habe, ist aber der sensorische Eindruck, den ich beim Atmen des gesamten Abgasgemisches aus der Dieselverbrennung empfinde: Ich leide unmittelbar unter dem Gefühl, das der ölige Staub auf meinen Schleimhäuten in Mund und Rachen hinterlässt. Der schwere, schale, säuerlich-staubige Geruch verschlägt mir von einer Sekunde auf die andere den Atem, zwingt mich alle paar Schritte oder Trampelbewegungen auf einem Weg durch die Stadt dazu, das Atmen zu unterbrechen, kurz anzuhalten, vermehrt auch Schutz in einer Nebenstraße zu suchen, in die das Abgas nicht hineingeflossen ist und zu warten, bis der Spuk auf der Straße, auf der ich gerade irgendwo hinfahren oder hinlaufen wollte, vorüber ist. Komme ich am Ziel an, spüre ich tief in den Hals hinein die Verätzung, die die Gase in den Atemwegen hinterlassen. Ich finde es bemerkenswert, dass dieser unmittelbare Effekt des Dieselabgases auf mich als Verkehrsteilnehmer während der ganzen Debatte um den Dieselskandal nicht breit aufgegriffen worden ist. Stattdessen verschanzen sich auch die Journalisten, deren Beruf und Aufgabe es ist, öffentliche Debatten kritisch zu begleiten, hinter dem für normal Sterbliche zu abstrakten Begriff des Stickoxids. Tiefer wird dann für gewöhnlich nicht gebohrt. Geruchseigenschaften und Effekte auf die Atemwege – also die eigentlich Konsequenz für großstädtische Verkehrsteilnehmer – werden nicht genauer beschrieben. So bleibt die ganze Debatte immer einen Schritt weg vom tatsächlichen bewussten Erleben der Verkehrsteilnehmer.
Zwei Gruppen mit unterschiedlicher Wahrnehmung
Ein Zusatz sei gemacht: Im Gespräch mit Freunden, Kollegen und Ortsbeiratsmitgliedern des Ortsbeirates 1 in Frankfurt am Main ist mir aufgefallen, dass es zwei Gruppen von Menschen gibt, die das oben Beschriebene unterschiedlich wahrnehmen: Eine Gruppe (eine Kollegin sagte mal von sich selbst „die Hechler“, weil sie durch das gezielte Aussetzen oder Verändern der Atmung das Einatmen der Gase versuchen zu vermeiden) sind diejenigen, deren Sinne die giftigen, staubig-öligen Ruß-Gas-Gemische, die von Dieselfahrzeugen jeder Generation ausgestoßen werden, intensiv wahrnehmen und sofort ans Bewusstsein melden. Es gibt aber auch die Gruppe derer, denen die Intensität dieser Sinneswahrnehmung oder sogar die gesamte Sinneswahrnehmung dieses Phänomens fehlt und denen demnach auch das Bewusstsein dafür komplett oder fast ganz fehlt. Welche von beiden Gruppen besser dran ist, sei dahingestellt. Am Ende entscheidet nicht der subjektive sensorische Eindruck darüber, welche Schädigung an der Gesundheit entsteht, sondern das tatsächliche physikalisch-chemische Geschehen, das durch Gas und Ruß im Körper ausgelöst wird. Gehört man zur ersten Gruppe, kann man sich teilweise durch Luft anhalten oder Umwege fahren vor den negativen Einflüssen schützen. Gleichzeitig erzeugt das dauernde Bewusstsein für die krasse Verschmutzung der städtischen Atemluft aber auch für vermehrten Stress und Unzufriedenheit. Hier wäre mangelndes Bewusstsein psychisch betrachtet eher vorteilhaft.
Unstimmigkeit Nummer 2: Der politische Prozess ist manchmal auch Risiko für die Demokratie – die Gewaltenteilung erscheint der verlässlichere Part des Systems zu sein

Demokratie oder Oligarchie?
Die zweite Sache, zu der ich gerne ein paar Gedanken teilen würde, ist die weit geteilte Vorstellung, wir lebten in einer funktionierenden Demokratie (Oskar Lafontaine spricht in seinem letzten Interview mit Tilo Jung beispielsweise davon, wir lebten in einer Oligarchie). Hierzu ist zu sagen, dass wohl weder die eine noch die andere Feststellung ganz falsch ist. Sie sind aber eben auch beide nicht ganz richtig. Am Interessantesten finde ich, dass die Behauptung, wir lebten in einer funktionierenden Demokratie aus Gründen nicht ganz falsch ist, die uns vielleicht nicht zuallererst einfallen würden, wenn wir über den Demokratiebegriff nachdenken. So denke ich, könnte man sagen, dass wir nicht deshalb in einer funktionierenden Demokratie leben, weil wir regelmäßig Wahlen abhalten und eine echte repräsentative Demokratie seien. Das ist deshalb eher nicht der Fall, weil die Entscheidungsprozesse im demokratischen Meinungsbildungs- und Meinungsaggregierungs- sowie Abstimmungsprozess zäh und langwierig sind. Oft gehen sie über viele politische Ebenen in Parteien und von untergeordneten Gremien über mittlere hin zu übergeordneten Gremien. Die Verwaltung spielt mit hinein und die Dinge dauern zum einen sehr lange, zum anderen ist nicht klar, wie viel eines Vorschlages auf einer unteren politischen Ebene zu welchem Zeitpunkt weiter oben entschieden und in echtes hoheitliches Handeln umgesetzt wird. Das erfahre ich schon heute, nach gerade mal anderthalb Jahren, in denen ich den Frankfurter Politikbetrieb aktiv begleite, als frappierende Schwäche. Gleichzeitig öffnet diese (man könnte sich fragen: gewollte?) Langsamkeit Partikularinteressen, die von außen direkten Einfluss auf die höheren Politikebenen suchen, einen kompetitiven Vorteil vor dem eigentlichen politischen Prozess „durch die Institutionen“. Auf höchster Ebene im Bund kann man das, denke ich, sehr gut beobachten:
Warum gibt es keine intelligentes Logistiksystem in Deutschland?
Obwohl Deutschland als Land der Ingenieure und Erfinder gilt, hat die hohe Politik das Land in eine Art Verkehrskollaps rennen lassen. LKW verstopfen die Autobahnen, Bahnstrecken fehlt die Kapazität, mehr Waren auf der Schiene zu transportieren und ein intelligentes System, wie man Container praktischer Größe relativ mühelos auf die Schiene und am Ziel für eine regionale Verteilung auf elektrisch betriebene Kleinlaster umladen kann (in etwa so, wie es die Schweiz und China mit ihren ausgesprochen ambitionierten Projekten unterirdischer Logistik „Cargo Sous Terrain“ nun sogar noch eine Stufe ehrgeiziger angegangen sind), fehlt in unserem „besten Land der Welt“ komplett. Ein Schelm, der dabei denkt, dass das reiner Zufall sei oder am Fehlen deutscher Erfinder- und Ingenieursintelligenz liege. Näher als das liegt wohl, dass es eine mächtige Lobby oder mehrere mächtige Lobbys gibt (die Lobby der Logistik-Unternehmer, die Veränderung scheut, die Lobby der Straßenbauer, die die Zerstörung der Autobahnen durch Schwerlastverkehr begrüßt, die Politiker, die vom positiven Konjunktureffekt, den die Dauerausbesserung der überlasteten Straßen bringt, profitieren, die Öl-Lobby, die den Verbrauch von LKW-Diesel gerne wachsen sieht etc.). Es gibt auch andere Beispiele.
Warum haben wir nicht längst eine nachhaltigere Landwirtschaft?
Der Vorsitzende des Bundes Ökologische Lebensmittelwirtschaft, Felix Löwenstein, hat beispielsweise einmal eindrucksvoll darauf hingewiesen, dass die Kosten, Rückstände von in der „konventionellen Landwirtschaft“ verwendeten Pestiziden und Herbiziden wieder aus dem Grundwasser zu entfernen in etwa der gesamten Wirtschaftsleistung dieser konventionellen Landwirtschaft entsprächen. Würde man diese an die Allgemeinheit ausgelagerten Kosten in den Preis der auf solche Weise hergestellten Lebensmittel integrieren, müssten sie also im Supermarkt das Doppelte vom heutigen Preis kosten. Dann, sagte er, könne man auch gleich auf ökologische Weise Landwirtschaft betreiben. Die Posse des unabgestimmten Abstimmungsverhaltens eines CSU-Ministers im Europäischen Rat zur weiteren Zulassung des Herbizids Glyphosat vor etwas mehr als einem Jahr dürfte den meisten noch vor Augen stehen. Kaum einer wird glauben, dass so positive und kreative Veränderungen zum Wohle der Allgemeinheit auf den Weg gebracht werden. Dahinter steckt vermutlich eine Politik, die auf die Interessen derer hört, die gut am Status Quo verdienen.
In diesem Zusammenhang wäre es sicher fruchtbar, auch die Politik der Rüstungsexporte und die Gesundheitspolitik einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Das ist für den Zweck dieses Artikels an dieser Stelle nicht nötig. Jeder kann sich selbst dazu ein paar eigene Gedanken machen und sie in Bezug zur hier am Anfang gestellten Frage (funktioniert die Demokratie oder funktioniert sie nicht?) setzen.
Die in der Verfassung festgeschriebene Gewaltenteilung ist ein recht zuverlässiger Garant der Demokratie
Das positive Argument, weshalb wir vielleicht trotzdem in einer halbwegs funktionierenden Demokratie leben, speist sich aus einer anderen Überlegung: Wir haben – sieht man vom gegen die Verfassung verstoßenden Unding des Fraktionszwangs im Bundestag ab – eine einigermaßen vorhandene Gewaltenteilung. Gerade die Justiz, die dritte Gewalt im Staate, führt das im Kontext der Klagen der Deutschen Umwelthilfe gegen die Luftverschmutzung in den Städten eindrucksvoll vor.
Noch beeindruckender hat sich das Prinzip der Gewaltenteilung als Eckstein der Demokratie während der letzten zwei Jahre in den USA gezeigt. Immer wieder haben Richterinnen und Richter Anordnungen des Präsidenten aufgehoben, wenn es etwa um eine Einreisesperre für Angehörige bestimmter Nationen, um die Ausweisung der Kinder von illegalen Einwanderern oder um die Aufweichung von Umweltstandards ging. Nicht umsonst hat während meines Studiums der Politischen Wissenschaften der hellsichtigste meiner Professoren gesagt, der Souverän sei in den Vereinigten Staaten von Amerika nicht etwa das Volk, sondern die Verfassung. Die Verfassung garantiert „Checks and Balances“, also die gegenseitige Überprüfung und den Ausgleich zwischen den verschiedenen wichtigen Institutionen und Akteuren.
Auch dieses Instrument ist natürlich dauernd in Gefahr, wie wir in Polen sehen, wo die Gewaltenteilung per Regierungsbeschluss de facto aufgehoben wurde und Richterinnen und Richter nun von der Regierung ernannt werden können. Auch in den USA ist mit der (verfassungsgemäßen) Wahl politisch willfähriger oberster Richter (zuletzt Brett Kavanaugh) ein Hohlraum unter der Gewaltenteilung möglich. Und auch hierzulande werden Richter von einem vermutlich nicht ganz zufällig eher konservativen Justizapparat nach dem Prinzip der Elitenselektion ernannt und befördert, was insgesamt für eine abgeschwächte Kontrolle klassisch-konservativer Regierungsarbeit sorgen dürfte.
Wenn wir in einer funktionierenden Demokratie leben, dann jedenfalls eher der Gewaltenteilung halber als der regelmäßigen Wahlen und der (eben immer der Gefahr von Korruption ausgesetzten) Arbeit der politischen Institutionen halber. Auch, wenn man vielleicht gerne zuallererst dahin guckt. Damit macht man es sich zu einfach, wie auch das Interview zeigt, das der russische Präsident Vladimir Putin anlässlich seines jüngsten Österreich-Besuch dem ORF gab. Hier führt Putin, geradezu als Beweis für die demokratische Verfasstheit Russlands die regelmäßigen Wahlen an (Aufzeichnung bei Youtube, 44‘ 50‘‘ ff.). Wer Russland auch nur aus der Ferne beobachtet, kann leicht den Eindruck gewinnen, dass aber gerade der Mangel an echter Gewaltenteilung der Grund dafür ist, dass es mit der Demokratie dort doch nicht so weit her ist, wie der Präsident glauben machen will. Das Interview ist im Übrigen auch deshalb interessant, weil Putin darin dünnhäutig, reizbar und somit schwach wirkt. Anders, als er sonst aufzutreten trachtet.